Da das vorangehende Literaturrätsel eher für angewandte Mathematiker von Interesse ist, und weil wir bekanntlich um weltanschauliche Neutralität bemüht sind, stellen wir ein zweites (zugegebenermaßen nicht ganz einfaches) Rätsel, das auch den reinen Mathematiker interessieren dürfte. Schließlich befaßt sich folgende Abhandlung mit den reinsten Gefühlen des menschlichen Herzens
»Senora«, antwortete Velásquez, »mein System erstreckt sich auf die gesamte Natur und umfaßt notwendigerweise alle Gefühle, die sie in das menschliche Herz gelegt hat. Ich mußte ihnen allen auf den Grund gehen und sie definieren. Und das gelang mir vorzugsweise bei der Liebe: Denn ich fand, daß es möglich ist, sie mit algebraischen Begriffen zu erfassen, und Sie wissen ja, daß Fragen, die der Algebra zugänglich sind, Lösungen zeitigen, die nichts mehr zu wünschen übriglassen.
Nehmen wir doch einmal an, >Liebe< sei ein positiver Wert, der mit dem Pluszeichen zu verbinden ist; >Haß<, als der Liebe entgegengesetzt, wird vom Minuszeichen begleitet, und die Gleichgültigkeit als Mangel an Empfindung wäre der Null gleichzusetzen.
Multipliziere ich die Liebe mit sich selbst, liebe ich also die Liebe oder liebe ich es, die Liebe zu lieben, erhalte ich immer positive Werte, denn plus mal plus ergibt immer plus.
Hasse ich aber den Haß, so kehre ich zu den Gefühlen der Liebe oder den positiven Größen zurück; und minus mal minus ergibt daher plus.
Wenn ich es dagegen hasse, den Haß zu hassen, kehre ich wieder zu den Gefühlen zurück, die der Liebe entgegengesetzt sind, also zu den negativen Werten, denn minus in der dritten Potenz ergibt wirklich minus. Was die Produkte von Liebe mal Haß oder Haß mal Liebe angeht, sie sind immer negativ wie die Produkte von plus mal minus und minus mal plus. In der Tat, ob ich nun die Liebe hasse oder den Haß liebe, ich bewege mich immer im Bereich der Gefühle, die der Liebe entgegengesetzt sind.
Haben Sie, schöne Laura, meinen Argumenten etwas entgegenzusetzen
Ganz und gar nicht«, erwiderte die Jüdin, »und ich bin überzeugt, daß es keine Frau gibt, die sich dieser Beweisführung entziehen könnte.«
»Das läge nicht in meinem Interesse«, fuhr Velásquez fort. »Wenn sie nämlich so schnell überzeugt wäre, dann entginge ihr die Folge meiner Korollarien oder Konsequenzen, die aus meinen Grundsätzen erwachsen. Ich fahre also in meiner Argumentation fort: Da Liebe und Haß sich absolut wie positive und negative Werte verhalten, ist daraus zu folgern, daß ich statt >Haß< auch schreiben kann >minus Liebe<, was nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf, deren Eigenschaft mit null gleichzusetzen ist.
Prüfen Sie nun das Verhalten der Liebenden. Sie lieben einander; hassen einander; verabscheuen den Haß, den sie empfunden haben, lieben einander mehr denn je, dann läßt ein negativer Faktor alle diese Gefühle in Haß umschlagen. So kann man gar nicht umhin, darin die abwechselnden Kräfte von plus und minus zu erkennen. Schließlich kommt Ihnen zu Ohren, daß der Liebende seine Geliebte erdolcht hat. Sollen Sie entscheiden, ob dies ein Produkt der Liebe oder des Hasses ist, sind Sie in größter Verlegenheit. Das ist ganz wie in der Algebra, wo Sie zu plus oder minus Wurzel aus x gelangen, wenn die Wurzelexponenten gerade Zahlen sind.
Dies ist so wahr, daß man oft bemerkt, daß eine Liebe mit einer Art Abstoßung beginnt, einem geringfügigen negativen Wert, den wir als minus B darstellen können. Diese Abstoßung fuhrt ein Zerwürfnis herbei, das wir urch minus C darstellen. Das Produkt beider ist eine Versöhung, die durch plus BC darzustellen wäre, das heißt ein positiver Wert, ein Gefühl der Liebe.«
Wie heißen Autor und Titel dieses Romans, der zwar nicht in tausendundeiner Nacht, aber immerhin in 66 Tagen erzählt wird?
Hier finden Sie die Lösungen der Rätsel.
HängeMathe Nr. 22
Juli 2003
Juni 2003