Das Geldene Zeitalter

Eine Ideotopie

Teilnahmslos verlor sich sein Blick in den endlichen Weiten der lotoidbeschichteten Karbonfaserwände, während seine Hände mechanisch die letzte Spaghetti immer wieder um den mit Tomatensoße beschmutzten Apfel wickelten. In den ersten Tagen hatte er, da ihm Papier und Bleistift verwehrt wurden, noch mit der Tomatensoße auf die Wände seiner Zelle zu schreiben versucht, doch bevor er die zweite Zeile begonnen hatte, war das erste pi tropfenweise, ohne Spuren zu hinterlassen, an der Wand heruntergeronnen.

"Das gewinnen wir! Notfalls gehen wir bis zum Höchsten Gerichtshof!" - die unerschütterlichen Optimismus predigenden Floskeln seines Anwalts hatten Alexander anfangs in dem Glauben an den Gewinn des Schadensersatzprozesses bestärkt. Angesichts des durch die letzten Skandale hervorgerufenen negativen Schlagzeilen konnte es sich kein Gericht leisten, entgegen der Erwartung der Öffentlichkeit, Permafrost auch nur in einem der Anklagepunkte freizusprechen. Der erste größere Vorfall hatte sich bereits im Jahre 2010 ereignet, als durch die verordnete Portierung der Steuerungssoftware zu Windows XiT die Kühlanlage einer ganzen Halle für zwei Tage ausgefallen war. Die Panne konnte jedoch verheimlicht werden, und die Körper werden, als wäre nichts geschehen, bis zum vertraglich festgesetzten Zeitpunkt vitalkonserviert, obwohl für die einzig verbliebene Verwendung als Exponate in anthropologischen Museen die Lagerung in Gefriertruhen ausreichend ist.

Die Serie der öffentlich bekannt gewordenen Pannen und Skandale begann mit der Geschichte der Dmitris. Dmitri, der eigentlich Dariusz hieß, war Ergebnis des dritten vergeblichen Versuchs, Dmitri Iwanowitsch Rurik, den ehemaligen Präsidenten der damals russischen Gasgesellschaft, aufzutauen. Dank der Unfähigkeit des Personals, kyrillische Buchstaben zu lesen, waren schon vorher zwei falsche Dmitris wiederbelebt und nach dem Bemerken des Irrtums wieder eingefroren worden. Dem dritten Kandidaten blieb das Wiedereinfrieren glücklicherweise erspart, da einige Journalisten des aus der Gasgesellschaft hervorgegangenen Medienkonzerns, die schon ungeduldig auf das Wiedererscheinen des legendären Gründungsvaters warteten, mittlerweile Fragen zu stellen begonnen hatten, und den Skandal über die beim Wiedereinfrieren zerstörten falschen Dmitris aufdeckten. Permafrost blieb also nichts anderes übrig, als sich öffentlich zu entschuldigen, und als Geste guten Willens den dritten Dmitri finanziell großzügig zu entschädigen. Dmitri, der vorher erfolgloser Dramatiker gewesen war, startete aufgrund seiner medialen Bekanntheit eine beispiellose Schauspielkarriere, und wurde bald mit der Hauptrolle in einem Monumentalfilm über Russland im angehenden siebzehnten Jahrhundert belohnt.

Während Dmitris Bedeutung als Schauspieler von Talkshow zu Talkshow stieg, saß Alexander völlig apathisch in seiner Zelle. Angesichts der großen Verzweiflung, die ihn befallen hatte, als sein Anwalt ihm mitteilen mußte, daß der Prozeß wegen nicht gesichterter Übertragungsrechte ausfallen müsse, war der nachfolgende Zustand völliger Willenslosigkeit für ihn Erlösung, war Lethe nun der einzig lindernde Trank. In den Wochen vor dem geplanten Schadensersatzprozesses gegen Permafrost hatten unzählige Gerichtsverhandlungen um des Präsidenten angeblich gefärbte Haare sowohl die Neugier der Zuschauer, als auch den Etat für Gerichtsberichterstattung erschöpft, so daß die Medienkonzerne auf die Übertragung des wenig attraktiven Prozesses eines Mathematikers verzichteten. So entging Alexander tatsächlich um ein Haar die letzte Gelegenheit, seine eigenen finanziellen Ansprüche durchzusetzen und damit die gegen ihn erhobenen Forderungen zu begleichen.

Der Beginn von Alexanders Unglück stand, wie es so häufig geschieht, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Glück eines anderen, namentlich des Institutsleiters William Blythe, dem am Abend des dritten Oktober, fünf Minuten nach sieben, endlich von der jungen, etwas drallen Praktikantin Monique Erleichterung gewährt wurde. Im Rausche ungestümer Leidenschaft ließ Blythe die erfoderlichen Vorsichtsmaßnahmen außer acht, und so erblickte Alexander neun Stunden später das Licht der Kontrolleuchte, die das Ende seines versehentlich ausgelösten Auftau- und Wiederbelebungsvorgangs anzeigte. Wir Leser, die als eigentliche Zeitgenossen Alexanders mit ihm die mentale Disposition eines Menschen des 21. Jh. teilen, können uns lebhaft sein Entsetzen vorstellen, als er erfuhr, daß er gut vier Jahrhunderte zu früh aufgeweckt wurde.

Als Alexander den Entschluß faßte, sich einfrieren zu lassen, hatte er sich jahrelang wenig erfolgreich an der Knotentheorie versucht. Mehr als ein Jahr hatte er damit zugebracht, einen Gordion-Index zu definieren und ihn mittels geschickten Zerschneidens der Knoten zu berechnen, bis er endlich einsah, daß für jeden noch so komplizierten Knoten, sein Index stets Null war. Er war daher gezwungen, sich eine andere Möglichkeit der Klassifikation zu überlegen. Und er erfand tatsächlich eine revolutionär scheinende Methode, die den einzigen Nachteil hatte, daß die Entscheidung über ihre Anwendbarkeit nur bei Kenntnis aller stabilen Homotopiegruppen von Sphären getroffen werden konnte. Da diese Gruppen in unser Zeit weitgehend unbekannt sind, war Alexander Feuer und Flamme, als er vom Projekt "Dornröschen" der Firma Permafrost hörte.

Permafrost (nach Erweiterung des Geschäftsfeldes war der Firmenname um das Anfangs-S gekürzt worden) hatte ein zellschonendes Gefrierverfahren entwickelt, das aus versicherungstechnischen Gründen noch an Freiwilligen getestet werden mußte, bevor finanzkräftige Kunden beträchtliche Mittel flüssig machten, um sich einfrieren zu lassen. Während Lagerung und Auftauen längst technisch gelöst waren, hatten bei den vorherigen Versuchen die für späteres Weiterleben Bestimmten schon während des Einfrierens nichtmehr behebbaren Schaden genommen. Alexander beschloß also, sein Leben der Wissenschaft, die ihm immer schon das Höchste gewesen, zu weihen, in der festen Überzeugung, daß bis zum Jahre 2500 die fraglichen Homotopiegruppen berechnet seien, und er dann mit seiner Methode die letzten ungelösten Probleme der Knotentheorie entwirren würde. Er unterzeichnete den Vertrag, der ihm neben sachgemäßer Lagerung und fristgerechtem Auftauen auch ein sechsmonatiges Trainingsprogramm garantierte, daß ihn für das Alltagsleben im sechsundzwanzigsten Jahrhundert befähigen sollte. Hundert Jahre lang verharrte er anschließend im Zustande biochemischer Stabilität, bis er versehentlich, wenn auch nur mittelbar, von der zukünftigen Frau Institutsleiter wachgeküßt wurde.

Die Veränderungen nach hundert Jahren waren weit geringer, als Alexander es sich vorgestellt hatte. Der FC Bayern war schon wieder deutscher Fußballmeister, die deutsche Sprache wies außer den vielen chinesichen Neologismen und dem kompletten Wegfall von dem Genitiv keine entscheidenden Veränderungen auf, die neuen Geldscheine unterschieden sich bis auf die fälschungssichere olfaktorische Markierung nicht von den alten. Von größerer Bedeutung waren allerdings die Neuerungen im Rechtssystem. Zwar schützte Unwissenheit immer noch nicht vor Strafe, dafür mußte aber der Angeklagte seine Unschuld beweisen, und im Zweifel wurde für die zahlreich anwesenden Medienberichterstatter entschieden. Die letzte Woche seines juristischen Trainigs entfiel jedoch, weil Permafrost Lizenzkosten sparte, und die Repetitoren das neue Patentrecht daher nicht unterrichten durften.

Nach Abschluß des Trainings stürzte sich Alexander sofort auf seine Arbeit, schließlich galt es, hundert Jahre Mathematik abzuarbeiten. Tatsächlich waren es aber nur zwanzig Jahre, den unerklärlicherweise fanden sich in der Bibliothek kaum Bücher, die nach 2020 erschienen waren. Doch auch die Ergebnisse von nur zwanzig Jahren mathematischem Fortschritt reichten aus, um Alexander in helle Begeisterung zu versetzen. In wahre Verzückung brachte ihn der Fund eines Buches aus dem Jahr 2035 über Dualität und Färbungsprobleme mit dem Titel "Colores und Ko-Colores", das wohl jemand auf dem Tisch neben dem Messingikosaeder vergessen hatte. Leider war das Buch am nächsten Tag nicht mehr auffindbar, doch die sechstündigen Studien der dichromatischen Spektralsequenz reichten aus, Alexander wesentliche Impulse für seine weitere Arbeit zu geben. Zwar war er der Lösung seines eigentlichen Problems nicht näher gekommen, dafür konnte er vierzehn Tage später in einem öffentlichen Vortrag neue, viel versprechende Ansätze präsentieren. Noch am gleichen Abend standen zwei in schwarze Ledermäntel gekleidete Männer der Staatspolizei für Geistiges Eigentum vor seiner Tür, und teilten ihm freundlich, aber bestimmt mit, daß er durch die Anwendung dieser Spektralsequenz gegen geltendes Patentrecht verstoßen habe. Bis zur Entrichtung der fälligen Straf- und Lizenzgebühren müsse er deshalb in Gewahrsam genommen werden.

Seit der Novelle des Patent- und Urheberrechts im Jahre 2020 war es nämlich möglich (und für Universitäten verpflichtend), alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zu patentieren. Für die Mathematik brach nach dem goldenen Zeitalter nun das geldene an: neu definierte Begriffe hatten den Wert von Warenzeichen, Sätze und Theoreme durften nur nach Entrichtung einer Lizenzgebühr verwendet werden, dabei bestand die Möglichkeit, für Lehrzwecke, zum Beispiel für die Benutzung auf Übungszetteln, einen Pauschalbetrag an die GEMAT zu entrichten. Die Verwendung von Beweistechniken oder Formeln war grundsätzlich nur dem Lizenzinhaber gestattet. Bei Zuwiderhandlung sah das Gesetz hohe Geldstrafen und horrende Lizenzentschädigungsbeträge vor.

So mußte er, da es ihm nicht möglich war, diese hohen Schulden zu begleichen, sein weiteres Leben im "George W. Bush"-Gefängnis fristen, der Anstalt für säumige Zahler, benannt nach dem amerikanischen Feldherren, der während seiner vierundzwanzigjährigen Präsidentschaft ein so hohes Staatsdefizit anhäufte, daß weder der Verkauf von irakischem Öl, noch russischem Erdgas oder namibischen Diamanten für die Zinszahlungen ausreichten, ein Defizit, dessen unerwartete Höhe einen Speicherüberlauf in den Computerprogrammen der amerikanischen Finanzverwaltung bewirkte, und damit den Zusammenbruch des weltweiten Finazsystems einleitete. Von keiner Erinnerung mehr geplagt, ging Alexander völlig in seiner trivialen, jahrelang immer gleich monotonen Beschäftigung auf - bis zu jenem verhängnisvollen 10. Juni seines effektiv dreiundreißigsten Lebensjahrs, als statt des Apfels und der Spaghetti nunmehr synthetische Nahrungswürfel auf seinen Teller fielen.

Veröffentlicht in:

HängeMathe Nr. 22

Juli 2003

Entstehungsdatum

Mai 2003