Die kahlen Wände einer Bad Godesberger Villa neigen sich in einem Winkel von 20 Grad dem Publikum entgegen, lediglich die stuckverkleideten Wände des Badezimmers und der mannshohe Spiegel im breiten, vergoldeten Rahmen lassen auf die ehemals luxuriöse Ausstattung schließen und erklären somit die große Anzahl an Umzugskartons, die sich in den sonst leeren Räumen stapeln. Unverständlich jedoch bleibt mir zunächst das Agieren der drei Herren in hellen Trenchcoats und erst allmählich gelange ich zu einer nur in Teilen schlüssigen Deutung des Bühnengeschehens.
Herr Daland, Marineattaché der norwegischen Botschaft und sein persönlicher Referent, von allen nur "Steuermann" genannt, haben gerade die Vorbereitungen für den Umzug nach Berlin beendet, als ein Fremder erscheint, der sich als niederländischer Diplomat ausgibt, und Herrn Daland ein nicht näher bezeichnetes Geschäft vorschlägt. Ich vermute, daß es sich dabei um den Ankauf von Kriegsschiffen handelt, denn der Referent führt Ihnen ein Modellschiff in der Badewanne vor. Auch gehe ich davon aus, daß es sich dabei um ein illegales Geschäft handelt; es gibt sonst keinen triftigen Grund, weshalb sich der Referent anschließend in der Badewanne die Pulsadern aufschneidet. Am Ende des ersten Aktes entsteigen plötzlich Seekadetten aus den Kartons, die allem Anschein nach beim Umzug helfen, und sich im Gegensatz zu einer regulären Umzugsfirma lediglich mit ein paar Flaschen Bier zufrieden geben.
Der zweite Akt spielt eine Etage tiefer im Frisörsalon von Dalands Tochter Senta. Die eigentliche Betriebsleiterin ist deren Freundin Mary, die die platinblonden Friseusen im Akkord arbeiten läßt, bis die Haartrockner glühen, während sich Senta müßigen Träumereien hingibt. Da erscheint Sentas Lebensabschnittspartner Erik, seines Zeichens Vertreter für Sport- und Outdoorartikel, um ihr das neueste Modell eines Zweimannzeltes zu zeigen. Zu einem Test des Zeltes kann er sie leider nicht überzeugen, und auch sonst scheint die Beziehung schon längere Zeit nicht mehr zu funktionieren. So ist es auch nicht verwunderlich, daß Senta sich für den neuen Geschäftspartner ihres Vaters interessiert, auch wenn anschließend die Schnelligkeit, mit der beide zur Sache kommen, doch etwas erstaunt. Die Glückseligkeit der frisch Verliebten wird jedoch kurz gestört, als die Badewanne die vom übergelaufenen Wasser durchweichte Decke durchbricht.
Im dritten Akt räumen die Seekadetten und die Frisösinnen den von der heruntergestürzten Badewanne verwüsteten Raum auf. In der Badewanne liegen unter dem Referenten noch drei Kästen Bier, deren Gewicht den Deckendurchbruch wohl zusätzlich beschleunigt hat. Der Referent hat sowohl den Selbstmordversuch, als auch den anschließenden Sturz überlebt, scheint jedoch noch nicht ganz wiederhergestellt zu sein, da er zwischendurch mehrere Schwächeanfälle erleidet. Plötzlich werden Senta und der Fremde von Erik überrascht. Die mehr oder weniger berechtigten Vorwürfe Eriks lassen Senta nicht gerade in einem vorteilhaften Licht erscheinen, was den Fremden dazu bewegt sich zurückzuziehen. Eigentlich wäre das ein guter Schlußpunkt, denn das nun folgende Happy-End finde ich weder logisch noch überzeugend: die schon durchbrochene Decke neigt sich immer mehr herab und bedroht Senta, die sich jedoch in letzter Minute noch retten kann. Dieses dramatische Ereignis läßt die erhitzten Gemüter abkühlen und den Fremden seinen voreiligen Rückzieher bereuen. Und so sehen wir, bevor der Vorhang fällt, Senta und den Fremden einträchtig nebeneinander sitzen.
Ich kann natürlich nicht ausschließen, daß mir bei der Interpretation des Geschehens nicht auch Fehler unterlaufen sind, schließlich wird in der Oper oft zwar schön aber auch schwerverständlich gesungen. Deshalb habe ich zur Kontrolle das Libretto gelesen und mußte erstaunt feststellen, daß Wagner eigentlich in dieser Oper auf die Sage vom fliegenden Holländer zurückgreift, die Sage vom Kapitän, der verdammt ist, ewig auf dem Meer zu irren, und nur durch die Treue einer Frau von seinem Fluch erlöst werden kann.
Kurz vor der Ankunft im heimatlichen Hafen trifft Kapitän Daland das Schiff des fliegenden Holländers. Dieser verspricht Daland große Reichtümer, falls er ihm seine Tochter Senta zur Frau gibt. Senta, die die Sage vom fliegenden Holländer kennt, fühlt sich berufen, diesen zu erlösen, und willigt in die vom Vater vorgeschlagene Ehe mit dem Fremden ein, da sie in ihm den fliegenden Holländer erkennt. Sie schwört ihm ewige Treue, doch als ihr früherer Verehrer Erik ihr vorwirft, ein ihm gegebenes Wort gebrochen zu haben, beginnt der Holländer an der Treue Sentas zu zweifeln. Ohne Hoffnung auf Erlösung verläßt er Senta, die sich zum Beweis ihrer unbedingten Treue von einer Klippe stürzt. Damit hat sie den Fluch gebannt, der Holländer versinkt mit seinem Geisterschiff im Meer, und "in weiter Ferne entsteigen dem Wasser der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt; er hält sie umschlungen."
Nun ist allgemein bekannt, daß die Oper Bonn kräftige Einsparungen vornehmen muß, und so hat wohl der Regisseur Matthias Schönfeldt aus Kostengründen kein Textbuch zur Verfügung gehabt. Zumindest würde das die Divergenz zwischen der Handlung der Oper und dem Geschehen auf der Bühne erklären. Andere Finanzierungs- und Einsparungsvorschläge sind hingegen besser umgesetzt, wie zum Beispiel das werbewirksame "Product-placement" eines Bierherstellers oder der rationalisierte Personaleinsatz: als während einer längeren Arie des Holländers der Kapitän beschäftigungslos auf der Bühne herumgeht, wird er vom Holländer ohne Federlesens zur Tür hinausgeworfen1. Im zweiten Akt vermißt man hingegen dieses konsequente Durchgreifen des Regisseurs, er läßt Erik mehr als die Hälfte des Aktes untätig im Bühnenhintergrund stehen.
Die durchaus witzige Inszenierung wartet mit einer Vielzahl von überraschenden Einfällen auf, die oft Heiterkeit aber auch Irritation im Publikum provozierten. So hörte man beim Auftritt der Hausfrauen mit den leuchtenden Haartrocknern wiederholt echauffiert "Lächerlich!" aus dem Publikum rufen; als der Matrosenchor die Bierflaschen schwenkte war ein aufrichtig gemeintes "Prost" und "zum Wohl" zu vernehmen. Die drei Stunden vergingen erstaunlich schnell, erstaunlich weil Wagners Opern nicht gerade der Ruf der Kurzweiligkeit vorausläuft. "Der fliegende Holländer" ist jedoch mehr der Romantischen Oper verpflichtet als den Prinzipien von Wagners späteren Musikdramen. Der Höhepunkt der Aufführung war der (laut)starke Auftritt der Chöre zu Beginn des dritten Aktes. Zwar hat sich niemand im Publikum hinreißen lassen, "Steuermann, laß die Wacht" mitzusingen, doch konnte man manchen Fuß dezent im Takt wippen sehen.
Was jedoch diese Inszenierung mit Wagners Oper zu tun hat, habe ich nicht verstanden (und ich befürchte, daß ich Banause nicht der einzige bin, dem es so ergeht). Mein Eindruck ist, daß die Intention des Regisseurs nicht die Inszenierung einer Oper, sondern bloß die möglichst vollständige Verwirklichung seiner Einfälle war. Vielleicht ist es aber auch ein Experiment, eine sich meinem begrifflichen Horizont entziehende neue Form von Oper, die die bisherige überkommene Einheit von Gesang und Schauspiel völlig aufhebt.
Den Lesern, die besonders an dieser neuen Form der Oper interessiert sind, kann ich neben dem Besuch des "Holländers" empfehlen, sich während einer Aufführung des Millowitsch-Theaters mittels Kopfhörer die "Missa solemnis" anzuhören, oder beim nächsten Auswärtsspiel des FC Bayern Tschaikowskis Schwanensee zu hören. Wer jedoch dieser neuen Asynchronie mißtraut und noch zögert, Geld dafür auszugeben, dem empfehle ich für die nächste Tagesschau den "Bolero" von Ravel, beide dauern etwa gleich lang.
1) Einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet der Schrotthändler Sigfus in Einar Karasons Roman "Törichter Männer Rat":
" ... trotz dieses Haufens an Musikanten auf der Bühne, hat immer nur ein kleiner Teil von ihnen auf einmal gespielt. Die anderen hingen die meiste Zeit auf ihren Stühlen herum, und man konnte deutlich sehen, daß sie sich zu Tode langweilten [...] Wie wäre es denn, Leute anzustellen, die mehr als ein Instrument spielen könnten? Die könnten dann die Trompete blasen, während wenig auf den Trommeln zu tun ist[...] Auf diese Weise könnte man den Steuerzahlern eine Menge Geld sparen."
(Einar Karason "Törichter Männer Rat", Zsolnay Verlag)
HängeMathe Nr. 21
Januar 2003
November 2002