Interview mit der Null

Aus unserm Leben ist sie nicht mehr wegzudenken: sei es als Menetekel auf unserem Kontoauszug, als trügerischer Anführer des Schwellenpreises, in doppelter Ausführung als Zeugnis eines langweiligen Fußballspiels - die Null, dieses Symbol des Nichts, ist ein wesentlicher, wenn auch unauffälliger Bestandteil unseres Alltags. Doch ihre wahre Bestimmung erreicht sie in der Mathematik, die heutzutage ohne Null kaum vorstellbar ist. Und so muß man fast zwangsläufig an die Null denken, wenn man sich an Saint-Exuperys wunderbaren Satz erinnert: "l' essentiel n'est pas visible pour les yeux"

gk: Ich habe heute die Gelegenheit, mit einer der bedeutensten Größe der Mathematik, der Null, zu sprechen. Wenn Sie sich vielleicht kurz vorstellen würden.

0: Nun, ich stamme aus Indien und bin wie meine Vorfahren Beamter im Stellensystem. In meiner zusätzlichen Funktion als Repräsentant des Nichts war ich einige Zeit im Nahen Osten tätig, bevor ich dann vor einigen Jahrhunderten dem Ruf nach Europa gefolgt bin.

gk: Ihre Bescheidenheit ist ja bekannt, deshalb gestatten Sie mir hinzuzufügen, daß Sie natürlich der wichtigste Repräsentant des Nichts, des Mangels an Sein, sind und in jüngerer Zeit auch als neutrales Element existenzielle Bedeutung für weite Bereiche der Mathematik haben; man erinnere sich nur an Ihre Schüler Nullstelle und Nullteiler, nicht zu vergessen, Sie sind Initiator der trivialen Gruppe.

0: Ich gebe zu, daß es mich mit Freude und Dankbarkeit erfüllt, einen Beitrag zum wunderbaren Gebäude der Mathematik leisten zu dürfen. Aber vielleicht überschätzen Sie auch meine Rolle, viele meiner neueren Aufgaben können genauso von der Eins erfüllt werden - so teilen wir uns z. B. den Vorsitz in der von Ihnen erwähnten trivialen Gruppe.

gk: Hätten Sie sich diese phantastische Karriere vor einigen Jahrhunderten vorstellen können?

0: Nie und nimmer. Als ich in Europa angefangen habe, stand ich vor großen Schwierigkeiten. Vor allem als Repräsentant des Nichts hatte ich einige Kämpfe mit den klerikalen Behörden zu bestehen. Allein meine nützlichen Kenntnisse, die ich mir im Stellensystem erworben habe, haben meine Entlassung verhindert.

gk: Sie erwähnten schon ihre Vorfahren, langjährige Diener im Stellensystem. Wurden die Grundlagen Ihrer späteren Karriere schon im Elternhaus gelegt?

0: In der Mathematik befinden wir uns in der glücklichen Lage, daß nur die eigene Leistung und nicht die soziale Herkunft maßgeblich ist. So ist mein Kollege, die Eins, von altem griechisch-philosophischen Adel, während z. B. einer unserer Privatdozenten, die imaginäre Einheit, aus eher komplexen Familienverhältnissen kommt. Und dann erinnere ich noch an meine Vettern, die unendlich kleinen Größen, die sich nie richtig durchsetzen konnten...

gk: ... aber doch vor einigen Jahren in der Nonstandard-Analysis ein Comeback starteten ...

0: ... ohne jedoch im entferntesten an ihre Anfangserfolge anknüpfen zu können.

gk: Ein Geisteswisenschaftler hat herausgefunden, daß der Erfolg der indischen Programmierer durch ihre hinduistische Religion begründet ist, die Idee der Wiedergeburt sei verwandt mit der Technik der Rekursion. Hat dieser Erfolg nicht auch mit Ihrem Wirken zu tun, der Bedeutung der Null im von Computern verwendeten Binärsystem?

0: Da sehe ich keinen Zusammenhang. Übrigens wollen wir doch gerade die Einsen der indischen Programmierer haben, Nullen haben wir ja hier zur genüge. Ersparen sie mir jedoch jegliches Kommentieren der ersten These ...

gk: ... verstehe, Sie sind ja Experte in den exakten und nicht in den Geisteswissenschaften.

0: Was ich nicht bestreiten will, auch wenn ich vor langer Zeit einige kleine Arbeiten zur Literaturwissenschaft verfaßt habe. Wenn sie gestatten, möchte ich hier Lichtenberg als Kronzeugen anführen:1)

Man gibt über lyrischen Gedichten oft die Versart an
         |-uu|----|-uuu| pp.
Wenn man die Gedanken darin mit Eins und den Nonsens mit Null anzeigte, so würde es zuweilen so aussehen:
         000|000|000
oder so.

gk: Interessant. Ich wußte gar nicht, daß Sie auch außeralb der Mathematik Interessen haben. Zum Abschluß erlauben Sie mir bitte noch eine persönliche Frage, die vor allem unsere jungen Leser interessieren wird: gehören Sie jetzt zu den natürlichen Zahlen oder nicht?

0: Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber über Politik äußere ich mich grundsätzlich nicht.

1) Georg Christoph Lichtenberg: "Sudelbücher": Heft J, 294

Veröffentlicht in:

HängeMathe Nr. 20

Juli 2002

Entstehungsdatum

Februar 2002